Psychiatrie

Die Psychiatrie kann noch nicht alle Antworten auf emotionale oder seelisch-geistige Probleme geben. Doch wurden im Hinblick auf die Behandlung und Heilung von Patienten große Fortschritte erzielt. Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber seelisch oder geistig Kranken hat seit jenen Zeiten, in denen ein emotional gestörter Mensch als vom Teufel besessen galt, eine wechselhafte Entwicklung erfahren. Psychiatrie – aus den beiden griechischen Wörtern für „Seele“ und „Arzt“ abgeleitet – ist jener Bereich der Medizin, der sich speziell mit der Erforschung, Behandlung und Vorbeugung seelischer Erkrankungen befasst.

Geschichtliches

In früheren Zeiten galten Geisteskrankheiten als Ausdruck göttlichen Missfallens oder dämonischer Besessenheit. Diese Einstellung hielt sich hartnäckig, bis der berühmte griechische Heilkundige und Arzt Hippokrates, der im 5. Jahrhundert v. ehr. lebte, den ersten Anstoß zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Geisteskrankheit gab. Er und seine Nachfolger waren die ersten, die die verschiedenen Formen des „Wahnsinns“ beschrieben und untersuchten und damit das Fundament für die Wissenschaft der Psychiatrie legten. Im Mittelalter entwickelte sich die Haltung der Gesellschaft gegenüber Personen, die von der Norm abwichen, wieder rückläufig, das heißt, die Betroffenen wurden mit Hexerei, dämonischer Besessenheit und auch mit Ketzerei in Verbindung gebracht. Während des 19. Jahrhunderts verbesserten sich die Bedingungen für psychisch Kranke, und das systematische Forschen nach dem Wesen von Geisteskrankheiten begann erneut. Bei der Schaffung einer wissenschaftlichen Grundlage für die Erforschung von Geisteskrankheiten erzielte man sehr beachtliche Fortschritte; sie gipfelten im Jahr 1883 in einer von Emil Kraepelin erarbeiteten Klassifizierung psychischer Erkrankungen. Dieser Aufschwung im Forschen nach dem Wesen psychischer Erkrankungen bildete den Hintergrund, vor dem Sigmund Freund seine Fundamente psychoanalytischer Theorie und Praxis legte. Viele Menschen suchen zu irgendeinem Zeitpunkt wegen eines psychischen Problems oder wegen eines Krankheitssymptoms, dem seelische Auslösefaktoren zugrunde liegen, einen Arzt auf. Die meisten nehmen eine geringfügige körperliche Unpässlichkeit zum Vorwand für ein Gespräch, in dem unter Umständen tief liegende psychische Schwierigkeiten anklingen.

Irrationale Wahrnehmung

Diese Schwierigkeiten können unterschiedlicher Natur sein – von geringfügigen Problemen, beispielsweise Kontaktangst in bestimmten gesellschaftlichen Situationen, bis hin zu gravierenden Formen, zum Beispiel in Selbstmordgedanken gipfelnder Verzweiflung. Manche Menschen haben auch irrationale Wahrnehmungen. So behauptete die Schriftstellerin Virginia Woolf, Vögel in griechischer Sprache singen zu hören. Psychische Probleme stellen zwar für den Betroffenen und seine Umwelt häufig eine erhebliche Störung dar und beeinträchtigen das normale Leben. Viele Störungen sind aber kaum als Krankheit anzusehen und lassen sich durch leichte Hilfestellung und Beratung beseitigen. Andere wiederum gelten uneingeschränkt als Krankheit und bedürfen unter Umständen intensiver Behandlung oftmals in medikamentöser Form, mitunter auch stationär. Die Grenze zwischen psychischer Störung und psychischer Krankheit ist fließend, ähnlich wie ein Abgrenzungsversuch zwischen normalem und unnormalem Verhalten.

Erkennen von Störungen

Wichtigstes diagnostisches Hilfsmittel des Psychiaters ist das Zuhören und das Gespräch. Er erfragt ausführliche Details – z. B. über den familiären Hintergrund, den Gesundheitszustand der Familie, über Persönlichkeit und Beziehungen. Dazu wird er den Patienten nach seiner Arbeit fragen, der körperlichen Gesundheit, nach den Empfindungen gegenüber allen, mit denen der Patient zusammenlebt und arbeitet sowie nach dem Sexualleben. Alles was der Patient dem Psychiater anvertraut, bleibt grundsätzlich im Rahmen der ärztlichen Schweigepflicht streng vertraulich. Ein Großteil der von einem Psychiater benötigten Informationen scheint auf den ersten Blick belanglos zu sein; doch das ist nicht der Fall. Gehst du beispielsweise mit Schmerzen in der linken Hand zum Arzt und dieser konzentriert sich bei der Untersuchung nur darauf, ohne mögliche andere Ursachen zu berücksichtigen, könnte seine Diagnose völlig falsch ausfallen. Er wäre außerstande festzustellen, ob der Schmerz etwa von einem Herzinfarkt oder ganz allgemein einer Erkrankung der Gliedmaße zuzuschreiben ist.

Genauso muss sich der Psychiater ein möglichst vollständiges Bild vom gesamten Leben des Patienten und den dazugehörenden Personen verschaffen. Zuhören und Gespräche stellen, wie gesagt, die wichtigsten diagnostischen Hilfsmittel dar. Die Behandlung kann zwar beides einschließen, doch hat sich das Problem erst einmal herauskristallisiert, wenden viele Psychiater physisch (auf den Organismus wirkende) wirksame Medikamente an oder psychodynamische Methoden wie Gestalttherapie oder Verhaltenstherapie. Die Gestalttherapie ist heute die gängigste psychodynamische Methode. Ziemlich freimütig Während der Patient dem Psychiater beispielsweise von seiner Jugend und seiner Familie erzählt, trägt dieser Einzelheiten über den Gemütszustand des Patienten, seine Persönlichkeit und die Menschen zusammen, denen sich der Patient in schwierigen Situationen zuwendet. Häufig äußern sich die Patienten nach ersten Hemmungen ziemlich freimütig, doch charakteristisch für psychische Störungen – insbesondere in schweren Fällen – ist, dass der Betroffene sein Verhalten selbst nicht in angemessener Weise reflektieren und kritisch bewerten kann, d. h., er weiß nicht, was mit ihm geschieht oder weshalb er so empfindet. Wichtige Hinweise gewinnt der Psychiater auch aus der Körpersprache des Patienten. Ist der Patient beispielsweise deprimiert, ist die Mimik verarmt, die Körperhaltung schlaff. Er spricht schleppend und monoton. Ängstliche Menschen sitzen oftmals auf der äußersten Stuhlkante, spielen nervös mit den Fingern, schwitzen leicht, und ihr Sprachrhythmus ist unruhig. Wer zornig oder impulsiv ist, neigt dazu, sich nach vorn zu beugen und laut zu sprechen. Auch das, was der Patient nicht mit Worten ausdrückt, kann dem Psychiater in seinen Erkenntnissen weiterhelfen. Ein leichtes Zögern bei der Erwähnung eines bestimmten Namens oder der Versuch des Patienten, um das Thema herumzureden, kann entscheidende Anhaltspunkte liefern.

Eigentliche Ursache

Mitunter veranlasst ein Psychiater seinen Patienten, sich einer eingehenden körperlichen Untersuchung zu unterziehen, um abzuklären, ob nicht eventuell organische Erkrankungen einen Einfluss auf die psychischen Störungen haben oder gar die eigentliche Ursache sind. Physische (körperliche) und psychische Symptome sind häufig miteinander verquickt, und emotionale Spannung ruft immer auch körperliche Spannung hervor (psychosomatisch). In gleicher Weise lösen organische Erkrankungen unter Umständen psychische Störungen aus (somatopsychisch). Viele Menschen fühlen sich nach einer schweren Krankheit, zum Beispiel Hepatitis (Leberentzündung) deprimiert. Bei seelisch-geistigen Erkrankungen, mit denen sich der Psychiater auseinanderzusetzen hat, unterscheidet man nach der herkömmlichen Schule drei Gruppen: Zur ersten Gruppe gehören die hirnorganisch bedingten Störungen, die unter anderem Delirium, Verletzungen und Entzündungen des Gehirns und die senile Demenz (Altersschwachsinn) einschließen. Zur zweiten Gruppe zählen die psychogenen (seelisch bedingten) Erkrankungen, zu denen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und psychosomatische Störungen zählen. Schließlich kommen die endogenen Psychosen, daher schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Cyclothymie (Manisch- depressive Krankheit), die einen Verlauf nach eigenen Gesetzmäßigkeiten nehmen, ohne dass eindeutig nachweisbare Veränderungen vorliegen oder bestimmte Schlüsselerlebnisse die Grundlage bilden.

Hirnorganische Krankheiten

Bei den hirnorganischen Erkrankungen (auch exogene Psychosen genannt) unterscheidet man zwischen akuter und chronischer Form. Unter akuten Gehirnkrankheiten (auch Durchgangssyndrom) versteht man vorübergehende Störungen der Gehirnfunktionen, einschließlich einer Unterbrechung der Stoffwechselvorgänge im Gehirn, von denen sich ein Patient in der Regel erholt. Hauptkrankheitssymptom ist das Delirium, eine Bewusstseinstrübung mit unzusammenhängender Sprechweise, Halluzinationen und Verwirrung. In der schwersten Form kann es ins Koma übergehen, daher einer schweren Bewusstlosigkeit. Bekannteste Erscheinungsform dieses Zustandes ist das Delirium tremens des Alkoholikers. Chronische organisch bedingte psychische Störungen sind die Folge einer Schädigung des Hirngewebes. Manche davon klingen nach einiger Zeit wieder ab oder lassen an Intensität nach, zum Beispiel bei einem vorübergehenden Schaden wie bei einer Schwellung im Gehirn (Hirnödem). Viele zeigen jedoch eine voranschreitende Tendenz. Über die Prognose entscheidet dabei vor allem die Art und Ursache des Hirnschadens. Häufigste Erscheinungsform ist die Alzheimersche Krankheit, bei der Gedächtnis und Zeitgefühl des Betreffenden allmählich erlöschen. Diese Patienten werden pflegebedürftig und können auch durch Medikamente nicht geheilt werden

Psychogene Störungen

Psychogene Störungen werden als seelisch- geistige Erkrankungen definiert, deren Entstehung weder einer endogenen Psychose noch einer strukturellen Schädigung des Nervensystems zuzuschreiben ist. Sie können psychische oder geistige Symptome hervorrufen, die vom „Normalen“ kaum abgrenzbar sind oder bis hin zu schweren psychischen Krankheiten reichen.