Die Mikrochirurgie hat mit ihren sehr genauen und feinen Methoden Operationen möglich gemacht, die früher nicht durchführbar waren. Sogar abgetrennte Beine und Arme können wieder angefügt werden. Die Mikrochirurgie ermöglicht das Zusammennähen winziger Arterien, Venen und Nerven und anderer kleiner Strukturen wie etwa Samenleiter. Auch die Augenchirurgie gehört in den Bereich der Mikrochirurgie.
Mikrochirurgische Technik
Die beim Nähen verwendeten feinen Fäden sind oft nicht dicker als ein Menschenhaar. Die Nadel ist bereits am Fadenende befestigt. Nadeln, Scheren und Skalpelle werden von dem Chirurgen mit einer Zange gehalten. Diese kleinen chirurgischen Instrumente werden in Präzisionsarbeit hergestellt. Mikrochirurgische Eingriffe sind sehr zeitaufwendig. Der Chirurg arbeitet mit einem Operationsmikroskop, das auf einem Ständer über dem Patienten montiert ist und durch Fußpedale auf und ab bewegt werden kann. Die Hände des Chirurgen bleiben dabei immer im sterilen Operationsbereich. Manche mikrochirurgischen Eingriffe können zehn bis zwölf Stunden dauern.
Operationsarten
Dass man Arterien, Venen und Nerven von nur einem Millimeter Durchmesser zusammennähen kann, hat neue Operationsmöglichkeiten eröffnet. Abgetrennte Gliedmaße, Daumen, Finger oder Zehen können wieder angefügt werden. Durch Verpflanzung von Haut- und Muskelstücken lassen sich Schäden nach Verletzungen oder Verbrennungen beheben. Durchtrennte Samenleiter können wieder zusammengefügt werden.
Blutgefäße und Nerven
Schon früher wurden Teile von Fingern und Zehen nach Unfällen wieder angenäht. Aber erst vor etwa zwanzig Jahren gelang es, unter dem Operationsmikroskop einen ganzen Finger, schließlich einen ganzen Arm erfolgreich wieder anzufügen. Heute sind solche Operationen gang und gäbe. Im Laufe der Zeit haben sich Spezialkliniken herausgebildet, die mikrochirurgische Eingriffe mit guten Ergebnissen durchführen. Nicht jeder Patient kann sich solch einer Operation unterziehen. Wie bei anderen chirurgischen Eingriffen spielen Faktoren wie Alter und Allgemeinzustand eine Rolle. Im jüngeren Lebensalter ist die Wahrscheinlichkeit, dass Nerven zusammenwachsen und neue Blutgefäße einsprießen, größer als bei älteren Menschen. Nach dem 40. Lebensjahr nimmt die Aussicht auf Erfolg der Operation allmählich ab.
Verletzungen
Gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Operation bieten Verletzungen mit glatten Schnittflächen. Verletzungen mit extremer Quetschung der Gewebe sind problematisch. Hier sind Blutgefäße und Nerven meistens in beträchtlichem Ausmaße geschädigt. Das Zusammennähen dieser Blutgefäße würde zu Thrombose (Blutgerinnsel) und somit zum Verschluss der Gefäße führen. In der Folge würde der angefügte Körperteil absterben. Unter günstigen Bedingungen jedoch liegen die Heilungschancen nach einer mikrochirurgischen Operation bei etwa 80 Prozent. Die Erfolgsaussichten nehmen ab, je mehr Zeit zwischen Verletzung und Operation vergeht. Für abgetrennte Finger und Zehen beträgt die äußerste Frist sechs Stunden. Werden sie jedoch auf vier Grad Celsius gekühlt, kann sich die Zeitspanne auf bis zu 24 Stunden verlängern. Danach sind die Blutgefäße unwiderruflich geschädigt. Bei ganzen Gliedmaßen ist die Überlebenszeit noch kürzer. Im Gegensatz zu Fingern oder Zehen werden die großen Muskelpartien infolge des Sauerstoffmangels schnell geschädigt.
Die Operation
Nachdem die Operationsfähigkeit des Patienten festgestellt ist, wird ein möglicher Blutverlust durch eine Transfusion ausgeglichen. Dann erhält der Patient Antibiotika und einen Schutz gegen Wundstarrkrampf. Die Verletzungsstelle wird zur Beurteilung des Knochenschadens geröntgt. Das abgetrennte Glied wird im Operationssaal gereinigt. Wichtige Strukturen wie Arterien, Venen, Nerven und Sehnen werden unter dem Operationsmikroskop identifiziert. Jedes erkennbar geschädigte Gewebe wird entfernt. Ist zum Beispiel ein Arterienabschnitt durch Quetschung zu stark ruiniert, wird er durch ein Venenstück – das etwa aus einem Bein stammt – ersetzt. Anschließend wird das abgetrennte Glied angefügt, und der Chirurg näht die einzelnen Strukturen aneinander. Dieser Teil der Operation bestimmt den Erfolg im wesentlichen mit und erfordert vom Chirurgen stundenlange, gewissenhafte Arbeit. So hat er es beispielsweise beim Annähen eines Fingers mit zwei Arterien, zwei Venen und zwei Nerven zu tun. Außerdem mit dem Knochen, den Sehnen und der Haut. Eine Arterie in einem Finger misst nur ein bis zwei Millimeter im Durchmesser. Meist müssen in jeder Arterie ungefähr zehn Stiche gemacht werden. Sind Arterien, Venen und Nerven aneinandergenäht, werden Sehnen und Muskeln repariert. Die Knochen werden meist mit einem Metallstift, der durch beide Teile des Knochens geführt wird, geschient. Das verhindert, dass die Bruchstelle sich verschiebt und auf die frisch zusammengefügten Adern und Nerven drückt. Nach der Operation erhält der Patient blutgerinnungshemmende Medikamente in Form von Injektionen und später auch Tabletten. Diese Behandlung soll Blutgerinnseln vorbeugen, die sich in einer Arterie wegen der leichten Verengung und des Verlusts der glatten inneren Wandschicht an der Nahtstelle bilden könnten.
Nach der Operation
Meist erkennt man innerhalb von rund zwei Wochen, ob der angefügte Körperteil fortleben wird. Nach mehreren Monaten muss die Funktionsfähigkeit des Glieds überprüft werden. Dazu müssen beispielsweise bei einem Finger folgende Fragen geklärt werden. Lässt er sich bewegen? Kehrt das Gefühl in den angefügten Teil zurück, wenn sich die Nerven regeneriert haben? Nerven bestehen aus vielen parallel verlaufenden Nervenzellfortsätzen. Die Fortsätze „wachsen“ in die Nerven des abgetrennten Körperteils neu ein (bis zu einem Millimeter täglich). Der Nerv wird hier also als Leitschiene benutzt. Wenn die Fortsätze entlang falscher Nerven in den abgetrennten Körperteil einsprießen, muss der Patient den Gebrauch der Glieder neu üben. Dies gelingt nicht immer. „Erfolg“ kann in diesem Sinne also auch nur bedeuten, dass der angefügte Teil zwar lebt, aber dennoch seinen Zweck nicht erfüllt, weil der Patient ihn weder bewegen noch fühlen kann.
Verpflanzung von Haut
In der Behandlung von Hautverletzungen hat die Mikrochirurgie einen großen Wandel bewirkt, insbesondere bei freiliegenden Knochen. Die konventionelle Methode der Hauttransplantation – hierbei wird mit einer an anderer Stelle des Körpers entnommenen Hautschicht der Defekt abgedeckt – ist für solche Verletzungen ungeeignet. Früher wurde Haut mit dem darunter liegenden Gewebe in mehreren komplizierten Operationen verschoben: Der Hautlappen wurde etappenweise verpflanzt, so dass er immer noch an einem kleinen Stiel am jeweiligen Körperteil befestigt war. Die Blutzufuhr in die betroffene Hautpartie blieb auf diese Weise immer erhalten. Dieses Vorgehen erforderte jedoch viele chirurgische Eingriffe über einen längeren Zeitraum. Mit Hilfe der Mikrochirurgie wird heute ein Hautsegment mit seiner Arterie, Vene und dem dazugehörigen Nerv vollkommen isoliert. Die Blutgefäße und der Nerv werden dann an der Verpflanzungsstelle an ein neues Versorgungssystem angenäht.
Blutgerinnsel im Gehirn
Dank der Mikrochirurgie lassen sich auch durch Blutgerinnsel verstopfte Arterien im Gehirn mit einem Ersatzgefäß (Bypass) umgehen. Am Herzen werden Bypass-Operationen seit etwa der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in größerer Zahl durchgeführt. Chirurgische Eingriffe dieser Art am Gehirn sind allerdings auch heute noch selten.